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Textgeneratoren in der Beratungsausbildung – Fallbeispiele entwickeln

von | Aug 22, 2023 | Allgemein, Lehre | 0 Kommentare

In der Beratungsausbildung sind Fallbeispiele und Simulationen unverzichtbare Werkzeuge, um die Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen. Sie bieten Studierenden die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen reale Beratungssituationen nachzustellen und ihre methodischen Fähigkeiten zu erproben. In der Regel schlüpfen die Studierenden für die Übung in zuvor erfundene Rollen und üben eine Beratungssequenz miteinander. Um die Rollenprofile zu definieren, bringen Dozierende oftmals Fallbeispiele und Rollenbeschreibungen mit, die den Studierenden helfen sollen, in die jeweilige Rolle zu finden. Es geht bei den Rollenbeschreibungen aber auch darum, dass ein bestimmter Übungsaspekt im Vordergrund steht. So kann zum Beispiel die Rollenbeschreibung dazu auffordern, eine Klienten zu spielen, der mit großen Widerständen an der Beratung teilnimmt. Oder es geht darum eine Jugendliche zu spielen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung eine besondere Körperhaltung einnimmt, keinen Blickkontakt mit dem:der Berater:in hält und sehr leise spricht.

Entscheidend für solche Lernsituationen ist, dass es gelingt Fallbeispiele und Rollenbeschreibungen zu nutzen, die vielfältig, realitätsnah und frei von Voreingenommenheit sind. Aber ist dies überhaupt möglich? In der Regel bringen Dozierende Fallbeispiele mit. Und man muss ehrlich gestehen (da nehme ich mich auch nicht aus), dass dabei gerne mit einem Fallbeispiel gearbeitet wird, das man schon seit Jahren nutzt.

Kleiner Exkurs: Forschendes Lernen als Grundlage

Ich möchte in diesem Blogbeitrag ein weiteres Beispiel für die Nutzung von ChatGPT vorstellen, wie ich es plane im kommenden Wintersemster mit meinen Studierenden zu erproben. Mir ist es wichtig, an dieser Stelle noch einmal zu betonen, dass wir uns im Sinne eines forschenden Lernens gemeinsam an die unterschiedlichen Nutzungmöglichkeiten herantasten werden. Es geht nicht nur darum zu erkunden, was technisch möglich ist und wie ‚gut‘ ChatGPT die Anforderungen, die die Studierden vorab definieren werden, umsetzt. Sondern wir werden ebenso überprüfen, inwieweit das Üben und Lernen mit ChatGPT überhaupt einen Gewinn darstellt um zum Beispiel die Effektivität des Lernens erhöht. Oder bevorzugen die Studierenden doch die klassischen Rollenspiel-Varianten? Diese und weitere Fragen werde ich in verschiedenen Lehrveranstaltungen mit den Studierenden bearbeiten.

Fallbeispiele und Rollenbeschreibungen generieren

Nun aber zurück zum eigentlichen Thema dieses Beitrags. Die Nutzung von ChatGPT bietet einen interessanten Ansatzpunkt zur Untersuchung, ob und wie eine KI-gestützte Generierung von Fallbeispielen zu mehr Vielfalt beitragen könnte. Durch die Möglichkeit, Fallbeispiele mit unterschiedlichen Hintergründen, Kontexten und Herausforderungen zu generieren, könnte ChatGPT als Werkzeug dienen, um die Bandbreite der Beratungssituationen, -themen und Klientensysteme breiter darzustellen.

Für mich weitaus bedeutsamer ist die Möglichkeit, die Studierenden an der Erstellung von Fallbeispielen aktiv zu beteiligen, beziehungsweise ihnen diese Aufgabe komplett zu übergeben. Werden die Studierenden in die Generierung und Analyse von Fallbeispielen eingebunden, fördert dies ihr kritisches Denken. Sie lernen, die Komplexität realer Beratungsszenarien zu erkennen und zu verstehen, was bestenfalls ihre Fähigkeit stärkt, in der Praxis sehr klientenorientiert und einfühlsam zu agieren. Darüber hinaus eröffnet es einen Raum für Diskussion und Reflexion, in dem Studierende ihre eigenen Annahmen und Vorurteile hinterfragen können.

Die Macht der ‚guten‘ prompts

Inzwischen weiß vermutlich fast jede:r, dass die Ergebnisse, die ChatGPT produziert, stark abhängig von der Qualität der Eingabeaufforderung (‚prompt‘) sind. Prompts sind also Aufforderungen oder Fragen, die an ChatGPT gerichtet werden, um bestimmte Arten von Antworten zu generieren. Sie bieten im Kontext des forschenden Lernens einen experimentellen Rahmen, um zu erkunden, wie die Generierung von Fallbeispielen durch verschiedene Eingabeaufforderungen beeinflusst werden kann. Die Kunst, einen ‚guten‘ Prompt zu formulieren, stellt dabei eine zentrale Komponente im Prozess der Fallbeispielgenerierung.

Ein gut formulierter prompt kann dazu beitragen, dass das generierte Fallbeispiel spezifische Aspekte oder Herausforderungen der Beratungspraxis beleuchtet, die sonst vielleicht übersehen würden. Zum Beispiel könnte ein prompt darauf abzielen, ein Fallbeispiel zu generieren, das die Herausforderungen der Beratung in einem interkulturellen Kontext hervorhebt. Ein solcher prompt könnte nicht nur zu einem vielfältigeren Fallbeispiel führen, sondern auch die Studierenden dazu anregen, über die Komplexität und Vielschichtigkeit der Beratungspraxis in einem solchen Kontext nachzudenken.

Selbstreflexion durch Prompting?

Das Aufschreiben und Formulieren eines prompts kann bereits als eine erste Form der Reflexion betrachtet werden. Es zwingt die Studierenden, sich darüber klar zu werden, welche Aspekte oder Fragestellungen sie in dem Fallbeispiel behandeln möchten. Diese bewusste Auseinandersetzung mit dem, was sie von dem Fallbeispiel erwarten, fördert nicht nur das kritische Denken, sondern auch die Fähigkeit, Fragestellungen präzise und fokussiert zu formulieren.

Darüber hinaus könnte die Qualität des prompts auch als Indikator für das Verständnis der Studierenden für die Beratungspraxis dienen. Ein differenziert formulierter prompt könnte darauf hindeuten, dass die Studierenden bereits ein tiefgehendes Verständnis für die Herausforderungen und Nuancen der Beratung haben, während ein vager oder unklarer prompt (und das zu erwartende eher ’schlechte‘ Ergebnis von ChatGPT) als Anlass für weitere Diskussion und Reflexion dienen könnte.

Praktische Umsetzung in der Lehre

Eine mögliche Herangehensweise für forschendes Lernen könnte der folgende Arbeitsauftrag für Studierende sein: „Arbeiten Sie in Kleingruppen und nutzen Sie ChatGPT zur Generierung von Fallbeispielen. Experimentieren Sie mit verschiedenen Prompts und diskutieren Sie die Ergebnisse.“ Dabei könnten Aspekte wie die Auswirkungen der Prompts, die Kriterien für ihre Formulierung und die Bewertung der generierten Ergebnisse untersucht werden. Diese Vorgehensweise ermöglicht es den Studierenden, sich aktiv in den Forschungsprozess einzubringen und ihre eigenen Hypothesen und Fragestellungen zu entwickeln. Es fördert die Selbstständigkeit und das kritische Denken, da die Studierenden nicht nur die generierten Fallbeispiele analysieren, sondern auch die Mechanismen und Grenzen der KI-gestützten Generierung verstehen und kritisch hinterfragen lernen.

Für Dozierende bietet dieser Ansatz die Möglichkeit, die Studierenden in einem interaktiven und dynamischen Lernprozess zu begleiten. Sie können den Studierenden gezielte Fragen stellen, Diskussionen anregen und verschiedene Ebenen der Reflexion über die generierten Fallbeispiele und prompts fördern.

Navigieren durch die Grauzone: Erste kritische Überlegungen zu KI-generierten Fallbeispielen

Aktuell interessieren mich vor allem die Chancen und Möglichkeiten der Nutzung von ChatGPT. Das hängt vor allem mit meiner Grundhaltung zusammen, dass mich „die Digitalisierung“ nur dann begeistern kann, wenn sie einen Mehrwert schafft. Auch wenn ich aufgrund meiner ersten eigenen Testphasen seit der Veröffentlichung von GPT-3.5 und dann 4.0 ziemlich sicher bin, dass die Nutzung im Beratungslernen relevant und nützlich sein wird, ist mir ein kritischer Blick wichtig.

Neben den Potenzialen dieser Technologien müssen wir auch mögliche Grenzen und Gefahren erkennen. Für das hier beschriebene Beispiel der Generierung von Fallbeispielen geht es zum Beispiel um Themen wie „algorithmic bias“ (algorithmische Voreingenommenheit), da ChatGPT nur das auswirft, mit dem es zuvor „gefüttert“ wurde. Es geht auch darum, die ethischen Implikationen der Verwendung von KI in der Beratungsausbildung zu berücksichtigen. Zum Beispiel kommen schnell Fragen der Datensicherheit und des Datenschutzes auf, insbesondere wenn persönliche oder sensible Informationen in den generierten Fallbeispielen verwendet werden würden.

Kritische Betrachtung fördert reflektiere Entscheidungen

Die kritische Auseinandersetzung mit diesen Themen kann auch als eine Form des forschenden Lernens betrachtet werden. Studierende und Dozierende können gemeinsam die ethischen und methodischen Herausforderungen diskutieren, die sich aus der Verwendung von KI-gestützten Tools ergeben. Dies fördert nicht nur das Bewusstsein für die Komplexität und die ethischen Dimensionen der Beratungspraxis, sondern auch die Fähigkeit, fundierte und reflektierte Entscheidungen zu treffen. Ebenso sollten die generierten Fallbeispiele im Kontext bestehender wissenschaftlicher Literatur und Theorien betrachtet werden. Dies schafft eine tiefere Analyse und Bewertung der Relevanz und Anwendbarkeit der generierten Szenarien. Es könnte auch dazu beitragen, die Diskrepanz zwischen der KI-generierten Simulation und der realen Beratungspraxis zu identifizieren.

Zugang zu Arbeitsblättern und Materialien

Um diesen Ansatz für andere Dozierende und Studierende zugänglich zu machen, plane ich, die Arbeitsblätter und Anweisungen für die unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten auf meiner Webseite zur Verfügung zu stellen. Ich würde mich freuen, wenn dadurch auch eine Plattform für den Austausch von Erfahrungen und Best-Practice-Anwendungen von ChatGPT (und anderen Systemen) in der Beratungsausbildung/Hochschullehre entstehen könnte.

Abschließende Gedanken

Der Einsatz von ChatGPT in der Beratungsausbildung an Hochschulen öffnet eine Tür zu neuen Forschungsmöglichkeiten und pädagogischen Ansätzen. Es bietet die Gelegenheit, die Vielfalt und Qualität von Fallbeispielen kritisch zu hinterfragen und zu analysieren. Dabei ist es wichtig, sowohl die Potenziale als auch die Grenzen der KI-gestützten Generierung von Fallbeispielen zu erkennen. In diesem Kontext wird nicht nur die methodische Kompetenz der Studierenden auf die Probe gestellt, sondern auch ein kritischer Umgang mit KI und Medientechnologie angeregt. Ob und inwieweit ChatGPT tatsächlich einen Mehrwert in der Beratungsausbildung bieten kann, bleibt also ein spannendes Feld.