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Wohin entwickelt sich die Beratung? Corona-Bilanz Teil 2

von | Jul 31, 2022 | Allgemein | 0 Kommentare

Die letzten zwei Jahre waren in vielerlei Hinsicht anstrengend und nervig. Sie haben aber auch dazu geführt, dass in vielen Arbeitsbereichen neue Arbeitsweisen, andere Kommunikationsformen und flexiblere Arbeitssettings erprobt wurden. Die Pandemie ist noch nicht vorüber und die nächsten Wellen stehen vermutlich schon vor der Tür. Dennoch findet aktuell wieder viel „business as usual“ statt, wenn man sich in den Beratungsstellen umschaut.

Gleichwohl: Es wird auch diskutiert. Und zwar über die Frage, wie es in Zukunft – auch ohne pandemische Zwangslage – mit der Beratung und insbesondere mit der Onlineberatung weiter gehen soll. Ich möchte in diesem Artikel bewusst nicht die Frage behandeln, welche Rolle in Zukunft die Onlineberatung haben wird, sondern vielmehr, wie sich „die Beratung“ insgesamt weiterentwickeln könnte.

Wie steht es um die Digitalität der Sozialen Arbeit und Beratung?

Denn eine Weiterentwicklung steht an. Das haben viel in den letzten zwei Jahren deutlich gespürt: Der Grad der Digitalität bei Trägern der Sozialen Arbeit ist nach wie vor vergleichsweise gering. Gleichzeitig haben wir während der Pandemie erlebt, dass sich viele Einrichtungen und Fachkräfte quasi über Nacht in unterschiedlichste Tools und Mediennutzung eingearbeitet haben. In der Praxis zeigte sich ein weiteres Phänomen: Während der Covid-Pandemie wurde so viel online beraten, wie nie zuvor (vgl. Buschle & Meyer 2020; Weinhardt 2022; Stieler, Lipot & Lehmann 2022).

Beobachtungen aus zwei Jahren Pandemie

Hierzu möchte ich ein paar Beobachtungen aus den letzten beiden Jahren teilen: Während es schon mehr als 25 Jahre Onlineberatung im deutschsprachigen Raum gibt und diese vor allem schriftbasiert (Mail & Chat) umgesetzt wurde, hat während der Pandemie eine vollkommen unreflektierte Auswahl des Beratungssettings „Video“ stattgefunden. Im Gegensatz zur schriftlichen Beratung liegen für diese nach wie vor keine systematischen Erkenntnisse, z. B. zu ihrer Wirksamkeit oder geeigneten Einsatzmöglichkeiten vor. Und so erfolgte der Einstieg in das Beraten per Video in der Regel auch ohne Qualifizierung oder mit Hilfe eines – eher auf die Bedienung des Videokonferenztools ausgerichteten – Crash-Kurs.

Bei den Fachkräften der Sozialen Arbeit, war so oftmals auch deutlich spürbar, dass es viele Widerstände gab. Und so war es auch nicht überraschend, dass der Trend zurück zur Präsenz ging, sobald es möglich war. Ein dabei häufig verbreitetes Narrativ: „Das wünschen sich auch unsere Klient*innen so.“

Beratung wurde digitalisiert, aber nicht transformiert

Das Präsenzsetting als „Goldstandard“ (DPtV) und das Online-Settings als „Notlösung“ (Lehmann 2021), welches von Fachkräften eher abgelehnt wird (Römer & Mundelsee 2021), so könnte man den Stand der Dinge bezeichnen. Beratung wurde digitalisiert, aber nicht transformiert. Denn das einfache Übersetzen vom analogen in das digitale Setting stellt weder eine Innovation da, noch beschreibt es einen Aushandlungsprozess, der grundlegende neue Praktiken, theoretische Verortungen und Qualitätsstandards hervorbringt.

Und so könnte es passieren, dass die Soziale Arbeit/die Beratung am Ende eine große Chance verschläft: Nämlich endlich ihr Beratungsverständnis von einem physischen Raum und Gesprächsführung abzulösen und es zu erweitern. Denn die Adressat*innen sind schon weiter (Engelhardt 2018; Römer & Mundelsee 2021) und die Konstruktion einer Online-Parallelwelt ist nicht mhr haltbar. Wir leben längst in vernetzten und mediatisierte Lebenswelten (Castells 2017; Krotz 2008)

Wichtige Entwicklungsaufgaben

Es stehen wichtige Entwicklungsaufgaben an. Diese müssen in den Fachverbänden für Beratung, den Ausbildungsinstituten, aber vor allem auch schon im Studium der Sozialen Arbeit diskutiert werden. Denn Beratung als Querschnittsaufgabe spielt in allen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit eine wichtige Rolle. Und insofern sind die Theoriebildung zur Sicherung von Professionalisierung aber auch die Reflexion des professionellen Handelns zur Sicherung von Qualität unabdingbar.

Es stehen aber auch praktische Fragen der Raumkonstitution an (Reindl & Engelhardt 2021; Weinhardt 2022). Hierbei geht es zum einen um beratungsfachliche Fragen (z. B. Was bedeutet es, wenn in der Videoberatung in mehreren Wirklichkeitsräumen gearbeitet wird?), aber auch sozialräumliche Fragen und damit Fragen zu Finanzierungstrukturen müssen in den Blick genommen werden.

Dem Digitalen etwas entgegensetzen!?

Ein Satz, den ich immer wieder höre, wenn ich soziale Organisationen zu ihrem digitalen Transformationsprozess begleite und berate, ist: „Wir müssen diesem ganzen Digitalen doch irgendwas entgegensetzen!“ Damit verbunden wird die Idee, dass schon so Vieles digital ist, dass doch wenigstens die Beratung noch „in echt“ stattfinden müsse.

Wie gehen wir mit einen solchen Glaubenssatz um? Ist eine bewahrpädagogische Haltung für die Beratung haltbar? Wie wird Soziale Arbeit und Beratung ihrem Anspruch auf Lebensweltorientierung gerecht ohne aktuellen Alltagsbezug? Oder drückt sich in der Ablehnung digitaler Settings und Medien vielleicht eine eigene Überforderung im Alltag aus?

Soziale Einrichtungen müssen sich die Frage gefallen lassen, welche Folge es hätte, wenn Beratung auch in Zukunft „wie früher“ stattfindet. Denn damit verbunden ist in jedem Fall die nächste Frage, die mehr schmerzt: Und wem überlassen wir dann die Beratung im Netz?

Quellen:

Buschle, C. & Meyer, N. (2020). Soziale Arbeit im Ausnahmezustand?! Professionstheoretische Forschungsnotizen zur Corona-Pandemie. Soziale Passagen, 12(1), 155–170.

Engelhardt, E. (2108): Lehrbuch Onlineberatung. 1. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Lehmann, R. (2021): Die Professionalisierung der Onlineberatung. BZgA Forum 3-5

Römer, C. & Mundelsee, L. (2021): Einstellungen gegenüber Online-Beratung: Eine Umfrage unter Berater:innen, Coaches und Therapeut:innen. https://link.springer.com/article/10.1365/s40896-021-00061-5

Reindl, R. & Engelhardt, E. (2021): Onlineberatung – Herausforderung an fachliche Kompetenzen und Organisationsstrukturen. In: Freier, C,. König, J. Manzeschke, A. & Städtler-Mach, B. (Hrsg.): Gegenwart und Zukunft sozialer Dienstleistungsarbeit. Chancen und Risiken der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft Wiesbaden: Springer VS, 117-128

Stieler, M., Lipot, S. & Lehmann, R. (2022): Zum Stand der Onlineberatung in Zeiten der Corona-Krise. Entwicklungs- und Veränderungsprozesse der Onlineberatungslandschaft. E-Beratungsjournal 18 (1) https://doi.org/10.48341/262p-7t64

Weinhardt, M. (2022), Offene Fragen an die Hilfeform Beratung im Spannungsfeld zwischen Digitalität und Digitalisierung. EthikJournal 8 (1)